Dichter, Naturkundler, Welterforscher

Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage

Lange waren der Mensch Adelbert von Chamisso und sein Werk in Vergessenheit geraten, inzwischen haben den Dichter und Naturforscher des 19. Jahrhunderts vor allem Kultur- und Literaturwissenschaftler wiederentdeckt und sein literarisches Werk gewürdigt. Nun hat sich auch der Evolutionsbiologe und Wissenschaftshistoriker Matthias Glaubrecht des Deutschen mit französischem Migrationshintergrund angenommen und eine umfassende und vielschichtige Biografie vorgelegt, die weit mehr beinhaltet als Leben und Werk des „Opfers“ der französischen Revolution.

Ein Leben zwischen den Welten

Mit seiner Familie flüchtete Louis Charles Adélaïde de Chamissot de Boncourt (1781 – 1838), so der vollständige Name des französischen Grafensohnes, 1892 vor den Revolutionsheeren nach Berlin, wo er sich unter dem Namen Ludwig von Chamisso von 1798 bis 1807 zum Dienst in der preußischen Armee verpflichtete und sich in die Berliner Kulturszene einbrachte, deren prominente Mitglieder ihn in vielerlei Hinsicht förderten, sodass er, inzwischen unter dem Namen Adelbert von Chamisso, seine schriftstellerische Karriere begründen konnte. Sein bis heute wohl bekanntestes Werk ist das 1814 erschienene Buch „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“, eine vielschichtige Erzählung um einen fiktiven Naturforscher. Dieses Werk wiederum führt zur zweiten Leidenschaft des Wahldeutschen, der sich inzwischen Adelbert von Chamisso nennt: Die Naturforschung.

Auf den Spuren Schlemihls

Botanisieren war seinerzeit ein beliebter Einstieg für bildungsbeflissene Bürger und Adelige in die Welt der Naturforschung. Und so ergab es sich, dass Chamisso, angeregt von einem seiner Freunde, bei seinem Aufenthalt in der Schweiz nun selbst begann, mit der Botanisiertrommel durch die Gegend zu streifen und Herbarien anzulegen. Wie alles, worin er sich versuchte, entwickelte er auch hier einen enormen Ehrgeiz und den Drang nach Perfektion. Am Ende schließlich gelang es ihm über Empfehlungen und Kontakte seines Netzwerks aus Kulturschaffenden und Wissenschaftlern, darunter auch sein Vorbild Alexander von Humboldt, als Naturforscher an der russischen Rurik-Expedition (1815 – 1818) unter Kapitän Otto von Kotzebue teilzunehmen. Dies und die dabei gewonnenen Erkenntnisse und Sammlungen begründeten schließlich nach seiner Rückkehr seine akademische Karriere und über entsprechende wissenschaftliche Anstellungen auch die Sicherung seiner finanziellen Zukunft.

Selbstfindung in den Wirren der Geschichte

Chamissos Biografie ist natürlich viel zu komplex, um sie hier auch nur halbwegs vollständig zusammenzufassen. Doch die Lebensgeschichte der vielschichtigen, sich immer wieder neu erfindenden kulturell entwurzelten Persönlichkeit, hin und hergerissen zwischen adeligem Standesdünkel und aufgeklärter kultureller und sozialer Offenheit, zwischen Romantik und Wissenschaftlichkeit, zwischen Vergangenheit und Zukunft ist nur ein Teil der umfassenden Auseinandersetzung Matthias Glaubrechts mit Chamisso und seiner Zeit. Vielmehr liefert das Leben des französischen Flüchtlings und Wahldeutschen auch die Grundlage zu einer historischen, wissenschafts- und kulturgeschichtlichen Abhandlung der Zeit zwischen französischer Revolution, den napoleonischen Kriegen und der Restauration und natürlich einer ausführlichen Darstellung der Rurik-Expedition, ihrer Hintergründe und wissenschaftlichen Ergebnisse.

Aufgespürt und „ausgegraben“

Abgesehen davon, dass mit diesem Buch wohl eine der umfassendsten Biografien des „Welterforschers“ mit durchaus auch neuen Einschätzungen der Persönlichkeit und Bedeutung Chamissos vorliegt, zeichnet es noch eine weitere, wenigstens ebenso spannende Besonderheit aus. Matthias Glaubrecht hat sich nämlich nicht nur mit der einschlägigen Literatur, den verschiedenen Reiseberichten der Rurik-Expedition und historischen Dokumenten auseinandergesetzt und diese miteinander abgeglichen, sondern dokumentiert in diesem Zusammenhang auch seine eigene Forschungsreise in die Tiefen der Archive von Naturkundemuseen und den frisch erschlossenen Nachlass Chamissos. So spürte er in detektivischer Kleinarbeit unter anderem verlorengeglaubte und/oder weit verstreute Teile von Chamissos legendären Herbarien und seiner naturkundlichen Sammlung auf, die der Naturforscher unter großen Schwierigkeiten auf der Rurik-Reise anlegte und unter abenteuerlichen Umständen nach Berlin bringen konnte. Es ist sicherlich ungewöhnlich, darauf hinzuweisen, aber auch die Lektüre der immerhin 438 Anmerkungen auf rund 100 Seiten des knapp 700 Seiten Buches lohnt sich.

Matthias Glaubrecht: Dichter, Naturkundler, Welterforscher. Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage.  Galiani 2023. Gebunden mit Schutzumschlag 688 Seiten

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