Piraten

Auf der Suche nach der wahren Freiheit

Wohl kaum eine historische Personengruppe ist so schillernd und Gegenstand von Spekulationen, Interpretationen, Ideologien, romantischen oder eher nüchternen Vorstellungen wie die der Piraten ihres sogenannten goldenen Zeitalters. Das währte gerade einmal  knapp 50 Jahre, inspiriert aber bis heute unsere Vorstellungen vom freien aber brutalen Leben in einer hierarchisch strukturierten und von Unterdrückung geprägten Welt. Dabei ist die Quellenlage alles andere als zuverlässig und eröffnet damit allerlei auch politisch motivierter Geschichtsspekulation Tor und Tür. In seinem Buch „Piraten. Auf der Suche nach der wahren Freiheit“ liefert der 2020 verstorbene Autor David Graeber, Professor für Anthropologie, Anarchist und politischer Aktivist“ seinen Beitrag zum Thema und nimmt dabei die Frage nach dem Ursprung von Freiheit, Demokratie und Anarchie in den Fokus.

Sehnsucht nach Freiheit

Die Zeit der Piraten als Fluch der Karibik war spätestens Geschichte, als die europäischen Kolonialmächte Ende des 17. Jahrhunderts damit begannen, den Kampf gegen die zuvor geduldete oder gar im jeweils eigenen Interesse geförderten Piraterie mit allen verfügbaren Mitteln aufzunehmen. Die „Gesetzlosen“ verlagerten ihre Aktivitäten in den Indik und setzten sich im Nordosten Madagaskars fest. Dabei, so David Graeber, versuchten sie die demokratische Verfassung an Bord ihrer Schiffe auf ihre Niederlassungen an Land zu übertragen und bildeten mit den Einheimischen Allianzen oder integrierten sich in die lokalen Gesellschaften. Dabei entwickelten sie Legenden und Mythen, von Piratenreichen und utopischen Gesellschaften, die die Intellektuellen der europäischen Metropolen als Grundlage für Gegenentwürfe zur ihrer industriell geprägten, hierarchisch organisierten und autoritär geführten Welt aufgriffen.

Rassismus versus Multikulti

Nun ist kaum zu bestreiten, dass die Ideen der Freiheit, die die europäischen Eroberer in die Welt hinaustrugen, kaum etwas mit Menschenrechten, sondern vielmehr mit der Freiheit des Kapitals zu tun hatten und so bezeichnet Graeber die Hauptleistung der intellektuellen Bewegung der Aufklärung, Ausgangsbasis für „wissenschaftlichen Rassismus, modernen Imperialismus, Ausbeutung und Völkermord“ zu sein und folgert daraus, dass die Ideale der Aufklärung insbesondere hinsichtlich der Befreiung der Menschen nicht wirklich als westlich bezeichnet werden können. Und hier schließt sich der Kreis zu den Piraten, denen der Autor im Rahmen seiner Ausführungen egalitären Piratenrepublik Libertalia in Madagaskar unterstellt, die eigentliche Inspirationsquelle freiheitlicher europäischer Gegenentwürfe zu sein. Die anarchischen Piratengesellschaften, zusammengewürfelt aus Menschen verschiedener auch indigener Kulturen, verortet David Graeber nicht nur geografisch am Rande, sondern auch gesellschaftlich und ideell außerhalb der europäisch geprägten Welt. Allein deshalb übten die „potemkinschen Dörfer“ in Form von Piratenreichen oder eben der Republik Libertalia auf die europäischen Intellektuellen einen besonderen Reiz aus.

Alternative Interpretation gleicher Fakten

Graebers Darstellung der Geschichte der Piratengesellschaften auf Madagaskar ist spekulativ. Das gilt jedoch ebenfalls für die eurozentrische Interpretation der gleichen Quellen derer sich auch Graeber bedient. Die sind nämlich alles andere als zuverlässig oder gar eindeutig und beruhen vor allem auf der „General History of the Pyrates“, die angeblich ein gewisser Captain Charles Johnson Anfang des 18. Jahrhunderts verfasst haben soll, die aber dem Romanautor Daniel Defoe zugeschrieben wird. Mit diesem Werk, den Protagonisten und den „Körnchen Wahrheit“, die David Graeber allerdings aus einem anderen Blickwinkel als die europäischen Intellektuellen des 18. Und 19. Jahrhunderts ausmacht, setzt sich der Autor geschichtskritisch auseinander. Dabei entwirft er unter Einbeziehung eigener Recherchen vor Ort seine faszinierende Version der madegassischen Ostküstengeschichte, bei denen die Indigenen Gesellschaften eben keine passive, sondern eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der egalitären Gesellschaftsutopie spielen, die (wie andere aus anderen Teilen der Welt auch) schließlich in den europäischen Intellektuellensalons landete und dort an die Überlegenheitsvorstellungen vom weißen Europäer angepasst wurden.

Es lässt sich nur schwer irgendetwas mit Gewissheit sagen

„Es lässt sich nur schwer irgendetwas mit Gewissheit sagen“, dieses Zitat aus Grabers „Piraten“ ist gewissermaßen ein genereller Leitfaden der Geschichtsschreibung zu diesem Thema, egal mit welcher Intention diese betrieben wird. Und so mag man über die Interpretation Grabers streiten, lesenswert, im Sine des Wortes „denkwürdig“, unterhaltsam und nicht zuletzt plausibel ist sie allemal.

David Graber: Piraten. Auf der Suche nach der wahren Freiheit. Klett-Cotta 2023. Gebunden mit Schutzumschlag, 256 Seiten

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