1688

Die Welt am Vorabend des globalen Zeitalters

Mit seinem Buch 1688 unternimmt der amerikanische Geschichtsprofessor John E. Wills eine wahrhaft epochale Weltreise. Dabei ist, wie der Autor in seinem Vorwort hervorhebt, das „Portrait“ des Jahres 1688 lediglich ein Konstrukt, ein Kunstprodukt. Tatsächlich hätte er auch ein anderes Jahr des ausgehenden 17. Jahrhunderts oder nur den Untertitel als Buchtitel wählen können, aber immerhin gibt der Titel Anlass, die Reise durch den Vorabend des globalen Zeitalters mit dem „bis dato größten gedruckten Globus seiner Art“ zu beginnen.

Die virtuelle Welt der frühen Neuzeit

Die in weiten Teilen bereits erstaunlich genaue Darstellung der damaligen Welt, zumindest hinsichtlich der Küstenlinien der Kontinente, war das Ergebnis intensiver Korrespondenz des Franziskanerpaters Vincenzo Coronelli mit den Mächtigen, in deren Archiven sich das geographische Wissen seiner Zeit konzentrierte. Bis auf wenige Ausnahmen reichte das allgemeine Wissen um die Welt damals jedoch kaum über die Küstenlinien und Handelswege hinaus, geographische, wirtschaftliche, kulturelle und politische Informationen stammten meist von christlichen Missionaren an außereuropäischen Herrscherhöfen und natürlich von Seefahrern, die als Sklavenhändler, Kaufleute, Freibeuter, Walfänger oder Kaperer auf den Weltmeeren unterwegs waren.

Eine Fiktion des Jahres 1688

Aber genau deshalb ist ein globaler Blick in die Ereignisse um 1688 eine historische Fiktion. Denn die jeweiligen Informationen, die den (entsprechend privilegierten) Menschen in diesem Jahr zur Verfügung standen, waren von Interessen, kulturellen Vorurteilen, persönlichen Kenntnissen gefärbt. Zudem standen sie gar nicht zeitgleich zur Verfügung. Von Reisenden gesammelte Informationen erreichten oft genug erst Jahre später ihren Adressaten. Der Blick in das Jahr 1688 ist also erst im Nachhinein und unter Auswertung historischer Quellen möglich. Und genau das macht der Autor von 1688, wobei auch in Wills Retrospektive die jeweils ausgewählten Zeitzeugen den gesellschaftlichen Eliten und ihren Chronisten entstammen.

Menschengeschichte(n)

Wills nähert sich der Darstellung des Jahres 1688 über die Biografien historischer Persönlichkeiten, die gewissermaßen als Initialquellen bei der Betrachtung der ausgewählten Weltregionen führen. So beginnt die erste Geschichte des ersten Kapitels mit einer prunkvollen Prozession in Mexiko mit der die Neuspanischen Granden dem ehemaligen Vizekönig und seiner Gattin das Geleit für ihre Rückkehr nach Spanien gaben. Unerwarteter Weise ist es jedoch nicht der Vizekönig, sondern seine Gattin, deren für jene Zeit recht ungewöhnliches Leben und Wirken dem Autor zunächst für die Darstellung der Entwicklung der spanischen Expansion dient. Aber 1688 ist Spanien natürlich längst nicht mehr unangefochten auf den Weltmeeren unterwegs, so dass auch Afrika, der atlantische Dreieckshandel und die „Entdeckungen“ in der Südsee im Kapitel „Eine Welt voller Segelschiffe“ Gegenstand der historischen Betrachtungen sind.

Eine imposante globale Kultur-, Geistes- und Politikgeschichte

Nach ähnlichem biografisch begründetem Muster entwickelt Wills auch die Welt der großen Compagnie, also die niederländische Expansion oder die Besuche des russischen Imperiums und der asiatischen Reiche, die sich zum Ende des 17. Jahrhunderts noch immer als „Getrennte Welten“ mit eigenständiger Dynamik präsentieren. Mit dem Kapitel „Politische Welten“ kehrt der Autor an die europäischen Höfe wie Versailles, London und Amsterdam zurück, befasst sich mit den wissenschaftlichen Entwicklungen und Erkenntnissen des Kontinents, um sich schließlich den Weltreligionen zu widmen, die bei der Vernetzung der Welt miteinander konkurrierten. Mit dem Kapitel „Heimatlose Welt: Exil, Utopie und Familie“ beschließt Wills seine Weltreise, die zwar 1688 ihren Fokus hat, tatsächlich aber mehr als ein Jahrhundert globale Kultur-, Geistes- und Politikgeschichte umfasst.

John. E. Wills: 1688. Die Welt am Vorabend des globalen Zeitalters. Unionsverlag 2021. Taschenbuch, 510 Seiten.

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