Geschichte unserer Umwelt

66 Reisen durch die Zeit

Wenn Sie dem Geschwurbel von Politikern von der Möglichkeit des Erreichens eines Klimaziels Glauben schenken, sollten Sie sich das Buch von Verena Winiwarter und Hans-Rudolf Bork zu Gemüte führen. Denn die dritte Auflage ihres 2014 erstmals erschienenen, um sechs Reisen erweiterten und überarbeiteten Buches Geschichte unserer Umwelt stellt mit seinen Reisen in die Vergangenheit klar, welche Kräfte und Einflüsse tatsächlich über das Wohl und Wehe der Menschheit bestimmen.

Es ist inzwischen beinahe eine Binsenweisheit: Die Eingriffe des Menschen in die Natur bleiben – je nach Intensität – nicht ohne Folgen für das jeweilige Ökosystem. Die Reisen der AutorInnen in die Vergangenheit veranschaulichen aber wesentlich mehr als diese einfache Wahrheit. Denn es ist eben nicht nur der Mensch, der gestaltend auf die Umwelt einwirkt, zwischen Mensch und Umwelt existiert eine oft genug unberechenbare Wechselwirkung. Im Nachhinein lassen sich diese Wechselwirkungen aus anthropozentrischer Perspektive als ökonomische, ökologische oder gesellschaftliche Katastrophe oder auch als gelungenes Beispiel für nachhaltiges Wirken begreifen. Und so reist der Leser in die Vergangenheit und um den ganzen Globus, um zunächst die Auswirkungen natürlicher Ereignisse wie beispielsweise Vulkanausbrüche, Pestepidemien Klimaveränderungen oder Hochwasser, Sturmfluten und Folgen seismischer Aktivitäten auf die menschliche Population im Allgemeinen, und deren gesellschaftliche Organisation im Besonderen kennenzulernen. Bereits hier wird eine der Kernaussagen des Buches deutlich: Es ist ein ewiger Kreislauf von Aktion, Folge und Reaktion, dessen Ergebnis nicht vorhersagbar ist, dessen Risiken und Möglichkeiten aber in der Betrachtung der Vergangenheit sichtbar werden.

Oft war es anders als die Geschichtsbücher lehren

Im gewissen Sinne darf auch der Mensch als Naturereignis begriffen werden. Denn seine gesellschaftliche Entwicklung, seine Nahrungsproduktion, seine Wohn- und Lebensbedürfnisse haben immer wieder direkte Auswirkungen auf die Umwelt. Ökologische Systeme werden verändert, das Klima wird beeinflusst, geologische und hydrologische Strukturen genutzt, verändert, zerstört. Bei den im Kapitel Mensch und Natur in Agrargesellschaften präsentierten Aufsätzen liefern die AutorInnen allerdings auch Beispiele für nachhaltige Landwirtschaft und Bodennutzung, die inzwischen allerdings weitestgehend der Globalisierung und dem ökonomischen Primat zum Opfer gefallen sind. Egal ob die Osterinsel, die Niederlande, eine präkolumbianische Kultur im Amazonasgebiet, die Geschichte des Umgangs mit Wasser und Fäkalien in japanischen Städten, oder die Landwirtschaft der grönländischen Wikinger, den AutorInnen gelingt es immer wieder, den Leser zu überraschen und scheinbar Bekanntes in Frage zu stellen.

Transformation des Victoriasees

Nicht anders stellt es sich in den Essays dar, die sich mit Transport, Handel und Umwelt insbesondere seit der Frühneuzeit befassen. Da geht es um Baumwolle, Plantagenwirtschaft und invasive Arten, die Folgen der chemischen „Wundermittel“ in der Landwirtschaft und der völligen Veränderung gewaltiger Ökosysteme, wie das Beispiel des Transformation des Victoriasees in kolonialer und postkolonialer Zeit zeigt (innerhalb gerade einmal 50 Jahre). Viele unterschiedliche Faktoren wie die Entwaldung des umgebenden Landes, Erosion und Düngemitteleintrag, Aussetzen fremder Fischarten, Aufbau einer Fischmehlindustrie und anderes mehr führten dazu, dass heute rund 200 Fischarten ausgestorben sind, durch die ungebremsten Eintrag von Phosphaten der See umzukippen droht und damit Millionen Menschen, die vom See und seinem Wasser abhängig sind, ihren Lebensunterhalt verlieren und zu Umweltflüchtlingen werden könnten.

Grundsätzliches gesellschaftliches Umdenken erforderlich

Die koloniale Wirtschaft nahm keine Rücksicht auf die Umwelt. Die Ökonomie war (und ist es weitgehend bis heute) auf maximale Ausbeutung der natürlichen Ressourcen ausgerichtet. Bei den Aufsätzen dieses wie auch des folgenden Abschnitts (Die vielen Gesichter der industriellen Lebensweise) wird immer deutlicher, dass nicht nur der rücksichtslose Umgang mit der Natur, sondern vor allem auch die Globalisierung der Ausbeutung auf eine ökologische Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes zusteuert. Die Folgen der immer massiveren Eingriffe in die Umwelt sind nicht mehr berechenbar, Bewältigungsstrategien unliebsamer Folgen verstärken in der Regel die Probleme, der Mensch hat eine gewaltige Risikospirale in Bewegung gesetzt. Die AutorInnen beschränken sich in ihren Ausführungen nicht nur auf ökologische und ökonomische Aspekte. Gesellschaftliche Strukturen, Machtverhältnisse, Politik, kulturelle Ausformungen, soziale Verhältnisse, philosophische Fragen und vieles mehr ziehen sich hintergründig durch die einzelnen Essays und sind zentrale Elemente sowohl des einführenden Zeitreiseführers als auch des ungemein wichtigen Abschlussbeitrags Auf dem Weg zur vorsorgenden Gesellschaft?. Sehr eindrucksvoll hier der Abschnitt Auf dem Weg zu einer vorsorgenden Gesellschaft, der die aktuellen neoliberalen Vorstellungen von gesellschaftlichem Handeln auf den Kopf stellt.

Eine Pflichtlektüre für Zukunftsorientierte

Das Buch hat mich mit seiner klaren, verständlichen Sprache, den spannenden Beispielen mit auch für den historisch gebildeten Laien oft genug überraschenden Informationen und den aufregenden (aber unaufgeregten) Schlussfolgerungen, schwer beeindruckt. Es sollte Pflichtlektüre für Politik und Wirtschaft aber auch für alle Technologiegläubigen, Arbeitsplatz- und Wachstumsfetischisten und jene sein, die glauben, die komplexen und noch gar nicht wirklich erfassten Wechselwirkungen zwischen den Systemen Gesellschaft und Natur, seien auch nur ansatzweise beherrschbar.

Verena Winiwarter, Hans-Rudolf Bork: Geschichte unserer Umwelt. 66 Reisen durch die Zeit. wbg Theiss 2019. Gebunden, 208 Seiten

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